Vor kurzem haben wir die Fotos vom ersten halben Jahr unseres Sohnes ausgegraben. Wir waren fasziniert, wie sehr sich ein Mensch in den ersten Wochen verändert, wie nach und nach immer mehr von seiner Persönlichkeit in seinem Gesicht zu lesen ist, dass ein Kind mal mehr dem Vater, mal mehr der Mutter und wieder etwas später fast genau wie die kleine Schwester jetzt ausgesehen hat.
Aber das waren für dieses Mal nicht die erstaunlichsten Erkenntnisse. Unser Blick blieb ganz oft am Hintergrund der Szenen hängen: unserer Wohnung von vor sieben Jahren. Wir konnten es nicht fassen, wie vollgestellt Esstisch, Couchtisch, Fensterbretter, Küchenzeile waren.
Damals wohnten wir zusammen mit vielen Kollegen auf dem Gelände, dass auch unsere Arbeitsstelle beherbergte. Häufig geschah es, dass Kollegen oder auch Schüler nur auf einen Sprung vorbeikamen, etwas abzuholen, zu bringen oder etwas zu fragen. Die Wohnung war so angelegt, dass man mit Öffnen der Tür mitten in der Wohnküche stand. Jedem Besucher eröffnete sich somit auch immer ein Blick mitten in unser Familienleben. Das störte mich immer mehr. Ich wollte nicht, dass andere unser Chaos miterlebten. Wir hatten z.B. die Flaschen unserer Hausbar oben auf den Hängeschränken der Küche deponiert. Fast jeder Besucher begann irgendwann über unseren Alkoholkonsum zu spekulieren, da sich im Laufe der Jahre ziemlich viele Flaschen angesammelt hatten. Aber ich wurde es müde, stets aufs Neue darauf hin zu weisen, dass die meisten Flaschen bis auf wenige ml fast voll waren.
Und eines Tages stolperte ich dann über die Simplify-Regel der freien Oberflächen. Zuerst fiel es mir schwer immer alles in Schränke oder Kisten zu verstauen. Warum sollte der Salzstreuer nach jeden Essen wieder zurück in die Schublade, wenn er beim nächsten doch bestimmt wieder zum Einsatz käme? Aber ich probierte es aus. Die Flaschen bekamen ein Depot in der Abstellkammer, die Gewürze, die vorher auf einem Rondell auf dem Esstisch standen, bekamen eine Schublade zugewiesen, die Fensterbretter wurden zur ablagefreien Zone erklärt, der Küchenblock war nur noch dauerhafter Standort einer einzelnen Orchidee (die später auch noch umquartiert wurde). Und siehe da – ich begann mich damit richtig wohl zu fühlen. Kam jetzt ein (unangemeldeter) Besucher, konnte er zwar unsere Einrichtung sehen und eventuell Kinderspielzeug, aber mehr auch nicht. Keine Post, keine Lebensmittel, nichts was Anlass zu irgendwelchen Spekulationen bieten könnte.
Gott Lob konnten wir dem „Marsprojekt“ wie ich es irgendwann zu nennen pflegte entfliehen. Man hatte ja vor einiger Zeit in einer Biosphäre die psychischen Auswirkungen einer Langzeitmission, wie sie ein Flug zum Mars darstellen würde, getestet. Mir kam das Leben und Arbeiten an ein und dem selben Ort mit ständig den gleichen Leuten immer mehr vor wie solch eine Marsmission (mit all ihren pathologischen Auswirkungen). Doch nun sind wir wieder auf der Erde zurück. Unser Haus hat zwar eine Wohnküche, aber einen ordentlichen Windfang und der Briefträger sieht nur die Garderobe und nichts weiter, wenn er ein Päckchen bringt. Wir könnten also durchaus ein bisschen Chaos veranstalten und müssten nicht ständig fürchten, dass man sich das Maul darüber zerreißen würde.
Aber die freien Oberflächen sind geblieben. Ich liebe es, wenn der Esstisch blank ist und ich alle Fenster jeder Zeit weit öffnen kann. Eine freie Arbeitsplatte ist auch immer sofort sauber gewischt und auf ein leeres Sofa kann ich mich immer einfach fallen lassen.