Gestern lief ich, wie schon berichtet, eine 10-km-Runde (Hausstrecke 1). Der Weg führt auf dem ersten Kilometer zunächst durchs Wohngebiet und anschließen an einer kleinen Ausfallstraße entlang. Da nach wenigen hundert Metern ein weiterer kleiner Teilort kommt, besitzt diese Straße einen Gehweg stadtauswärts gesehen rechts. In den kleinen Ort muss man dann nach rechts abbiegen, allerdings besitzt dieser Ort keine Gehwege. Um also möglichst sicher Laufen zu können und nicht von Autofahrern erschreckt zu werden, überquere ich zunächst die Straße und laufe dann auf der linken Straßenseite weiter durch den Ort und in die Felder. Das Überqueren der Straße im Lauftempo dauert keine drei Sekunden.
Nun geschah es gestern, dass eine Dame, von außerhalb kommend, links ins Dörfchen abbiegen wollte, ich aber gerade gelaufen kam. Mich im Recht wähnend (weil der Vorfahrtsstraße zunächst weiterfolgend), und um ein Abstoppen aus vollem Lauf zu vermeiden, lief ich weiter, sie hatte mich offensichtlich gesehen. Die Verzögerung für ihren Abbiegevorgang veranlasste die Dame aber, mich anzuhupen und ziemlich offensichtlich zu schimpfen.
Zunächst ärgerte ich mich furchtbar, da ich eigentlich nichts falsch gemacht hatte und mich durch die Hupe zurechtgewiesen sah.
Ich hätte natürlich stehen bleiben und sie abbiegen lassen können. Das wäre nett gewesen. Das wollte ich aber nicht sein. Aber ist nicht nett sein per se schon falsch?
Alternativ hätte ich sofort rechts abbiegen und nicht erst das Sträßlein überqueren können. Aber ehrlich gesagt wollte ich nicht Gefahr laufen, von eben jener Autofahrerin dann in den Straßengraben gedrängt zu werden, falls ein weiteres Auto aus der Gegenrichtung käme. Es folgt nämlich sehr schnell eine Kurve bergabwärts, so dass man herannahende Fahrzeuge erst sehr spät sieht. Gerade jetzt im Rückblick wäre das also keine echte Alternative, da zu gefährlich, gewesen.
Nach dem Hupton lief ich – auch etwas erschrocken, schließlich ist das ja ein Warnton – ein bisschen schneller. Schimpfte mit der Autofahrerin gleichziehend auch etwas und setzte meinen Weg mich ärgernd fort.
Und dann begann ich nachzudenken.
Ich dachte darüber nach, warum ich mich ärgerte.
Ich ärgerte mich, weil ich nach Straßenverkehrsordnung im Recht gewesen war. Und ich ärgerte mich, weil ich nicht nett gewesen war.
Und dann sah ich mir in der Erinnerung die Frau noch einmal an. Sie fuhr ein sehr teures schwarzes Auto. Ihr Gesicht war perfekt, fast maskenhaft geschminkt gewesen. Die Frisur saß perfekt. Und wo auch immer die Frau hinwollte, sie schien es schrecklich eilig gehabt zu haben.
Und dann tat sie mir auf einmal leid.
Ich durfte verschwitzt und in schlabberigen Sportklamotten die frische Luft genießen, während sie perfekt gestylt in ihrem Auto sitzen musste. Wie lang das gedauert haben muss, sich so aufzubrezeln. Während dieser Zeit hatte ich bestimmt in aller Ruhe meine Latte genossen. Ich muss mich für die Arbeit nicht schminken. Und ich finde mich auf ohne Farbe im Gesicht hübsch. Ich kann zu meinen Fältchen und Aknenarben stehen.
Und ich durfte zu dem Zeitpunkt auch Laufen und war noch nicht auf dem Weg zur Arbeit oder einem wichtigen Termin.
Und das teure Auto – wie sehr man auf so was aufpassen muss. Dass da kein Kratzer dran kommt, kein Dreckspritzer. Und wozu man das überhaupt braucht, so ein Statussymbol. Man ist was man hat? Ich fahre die Familienkutsche, einen Kastenwagen, der schon einige Schrammen und Dellchen hat. Wenn ein Kind die Tür im Carport mal wieder etwas zu schwunghaft aufreißt, dann zucke ich nicht mal mehr. Der Lack an der Stelle ist eh schon ab. Und das Ding repräsentiert mich nicht. Das benutze ich. Fertig. Und ohne Auto kann ich auch. Ich hab ein Fahrrad und eine Buskarte.
Und dann noch der Termindruck. Meine Tage sind oft auch recht voll und manches ist leider knapp getaktet. Aber gestern morgen konnte ich es mir doch leisten Laufen zu gehen. Drei Sekunden bedeuteten mir da quasi gar nichts. Ich hatte Zeit. Zeit für mich. Und die arme Frau im Auto hatte offenbar keine drei Sekunden. Die hatte ich ihr sozusagen gestohlen, weil ich nicht gewartet hatte. Und die drei Sekunden schienen ihr zu fehlen, so dass sie mich anhupen musste.
Ich glaube, das nächste mal bin ich netter, denn nicht nett sein ist zwar nicht falsch, aber nett sein fühlt sich besser an. Und Recht haben ist gut, aber großzügig auf sein Recht verzichten schadet manchmal auch nicht.